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Anrechnung von Kurtagen auf Erholungsurlaub war verfassungsgemäß
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 3. April 2001 festgestellt, dass § 10 Abs. 1 Satz 1 des Bundesurlaubsgesetzes in der Fassung des Arbeitsrechtlichen Gesetzes zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung vom 25. September 1996 für die Dauer seiner Geltung mit dem Grundgesetz vereinbar war.
Die Regelung galt von 1996 bis 1998 und sah vor, dass im Gegensatz zur früheren Rechtslage von je 5 Tagen bestimmter Kuren 2 Tage auf den Erholungsurlaub angerechnet werden konnten. Die Grenze des gesetzlichen Mindesturlaubs durfte nicht unterschritten werden. Im Ergebnis betraf diese Regelung Arbeitnehmer, die aufgrund einzelvertraglicher oder tarifvertraglicher Vereinbarung einen höheren Urlaubsanspruch als den gesetzlich festgelegten hatten und eine Vorsorge- oder Rehabilitationskur in Anspruch nahmen. Der Gesetzgeber wollte durch diese Anrechnungsmöglichkeit die Arbeitgeber und die Sozialversicherungen entlasten und verband damit die Hoffnung, mehr Wachstumsdynamik zu ermöglichen und zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Mit Wirkung vom 1. Januar 1999 ist die Anrechnungsmöglichkeit wieder entfallen. Der Entscheidung des Ersten Senats liegt ein Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Heilbronn zugrunde. Im Ausgangsverfahren waren dem Arbeitnehmer von seiner Arbeitgeberin wegen einer Kur auf seinen Urlaubsanspruch von 35 Tagen insgesamt 6 Tage angerechnet worden. Das Arbeitsgericht hielt die gesetzliche Regelung wegen Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG für verfassungswidrig. Durch die Anrechnung des Kuraufenthalts auf den tarifvertraglichen Urlaub werde unverhältnismäßig in die Tarifvertragsfreiheit eingegriffen.
Der Erste Senat hat die Verfassungsmäßigkeit der vorgelegten Norm festgestellt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Tarifautonomie, die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt ist, wird allerdings durch die zur Prüfung vorgelegte Regelung beeinträchtigt. Diese ermöglicht dem Arbeitgeber, das tarifvertraglich erzielte Ergebnis - den Urlaubsanspruch - zu Lasten der Gewerkschaften zu ändern. Letztere werden dadurch empfindlich getroffen, da sie ein solches Verhandlungsergebnis regelmäßig durch Nachgeben in anderen Punkten erreichen. Die Beeinträchtigung der Tarifautonomie entfällt auch nicht dadurch, dass der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers als solcher erhalten bleibt und eine Anrechnungsmöglichkeit nur für Tage gilt, an denen er sich entscheidet, eine Kur anzutreten ohne arbeitsunfähig krank zu sein. Gleichwohl sind solche Kuren kein Urlaub im üblichen Sinne.
Die Regelung ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit kann jedenfalls zum Schutz solcher Gemeinwohlbelange eingeschränkt werden, denen gleichermaßen verfassungsrechtlicher Rang gebührt. Art. 9 Abs. 3 GG verleiht den Tarifvertragsparteien in dem für tarifvertragliche Regelungen offenstehenden Bereich zwar ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol. Der Gesetzgeber bleibt befugt, das Arbeitsrecht zu regeln. Damit verbundene Beeinträchtigungen der Tarifautonomie sind verfassungsgemäß, wenn der Gesetzgeber mit ihnen den Schutz der Grundrechte Dritter oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Belange bezweckt und sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Diese Voraussetzungen liegen hier vor: § 10 Abs. 1 Satz 1 Bundesurlaubsgesetz dient verfassungsrechtlich legitimierten Gemeinwohlbelangen, er soll nämlich zu einem hohen Beschäftigungsstand und zur finanziellen Stabilität der Sozialversicherungen beitragen. Die Regelung ist zur Erreichung dieser Ziele geeignet. Ein Mittel ist bereits dann im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt. Auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt- , Sozial- und Wirtschaftsordnung gebührt dem Gesetzgeber ein besonders weitgehender Einschätzungs- und Prognosespielraum. Dessen Grenzen sind hier eingehalten worden, wie der Senat im Einzelnen ausführt. Auch gegen die Erforderlichkeit der Regelung bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Schließlich ist die Regelung noch verhältnismäßig im engeren Sinne. Allerdings betrifft die vorgelegte Regelung einen Bereich, in dem der Tarifautonomie besonders große Wirkkraft zukommt. In fast allen Branchen und Tarifgebieten gibt es tarifvertragliche Regelungen zu Urlaubsfragen, die durchweg über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehen. In diesen Bereichen genießt die Tarifautonomie grundsätzlich einen stärkeren Schutz als in Bereichen, die die Tarifvertragsparteien üblicherweise ungeregelt lassen. Das stellt erhöhte Anforderungen an das Gewicht der Gründe, die die Beeinträchtigung rechtfertigen sollen. Im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung können allerdings die konkreten Auswirkungen der Regelung auf die Arbeitnehmer nicht außer Betracht bleiben. Insofern ist zu berücksichtigen, dass sich die praktische Bedeutung der Regelung auf einen eingeschränkten Anwendungsbereich bezogen hat. Darüber hinaus wären die Folgen anderer Regelungen zur Beschäftigungsförderung und finanziellen Sicherung der Sozialversicherungen für die Arbeitnehmer mit hoher Wahrscheinlichkeit stärker belastend gewesen. Hier ist an die Absenkung oder teilweise Aufhebung der gesetzlichen Entgeltfortzahlung für Rehabilitationsmaßnahmen oder eine Erhöhung der Zuzahlungen zu denken. Die Schwere der Beeinträchtigung wird schließlich dadurch gemindert, dass die gesetzliche Regelung ihrerseits durch tarifliche Vereinbarungen abdingbar gewesen ist. Die Materie ist daher nicht auf Dauer der Regelung der Tarifparteien entzogen worden. Demgegenüber stellt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Verbindung mit der Gewährleistung der finanziellen Stabilität des Systems der sozialen Sicherung ein besonders wichtiges Ziel dar. Wie ausgeführt, hat der Gesetzgeber bei der Verwirklichung dieses Ziels einen weiten Entscheidungsspielraum. Auch ist zu berücksichtigen, dass die Regelung ein in den praktischen Auswirkungen eher geringfügiger Teil eines verhältnismäßig umfassenden Maßnahmekatalogs gewesen ist und der Gesetzgeber sie schon nach kurzer Zeit wieder aufgehoben hat.
Beschluss vom 3. April 2001 - Az. 1 BvL 32/97 -
Karlsruhe, den 30. Mai 2001