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Besteuerung von privaten Spekulationsgeschäften bei Wertpapieren in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 verfassungswidrig Druckansicht
§ 23 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b des Einkommensteuergesetzes in der für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 geltenden Neufassung des Einkommensteuergesetzes vom 16. April 1997 ist mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig, soweit er Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betrifft. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil entschieden. Infolge der Nichtigerklärung zählen die von der gleichheitswidrigen Norm erfassten privaten Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren, bei denen der Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung nicht mehr als sechs Monate beträgt, nicht (mehr) zu den erfassten Spekulationsgeschäften und damit auch nicht zu den sonstigen Einkünften, die der Einkommensteuer unterliegen. Dies betrifft die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998. Die Nichtigerklärung erstreckt sich nicht auf Nachfolgeregelungen der zur Prüfung gestellten Norm.
Wegen des dem Normenkontrollverfahren zugrundeliegenden Sachverhalts des Ausgangsverfahrens wird auf die Pressemitteilung Nr. 89/2003 vom 20. Oktober 2003 verwiesen.
In den Gründen der Entscheidung heißt es: Die von der zur Prüfung gestellten Steuernorm begründete materielle Steuerpflicht ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die mangelhafte Durchsetzung dieser materiellen Pflicht verstößt jedoch gegen das verfassungsrechtliche Gebot tatsächlich gleicher Steuerbelastung durch gleichen Gesetzesvollzug. Dies führt zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm.
A. Nach dem Gleichheitssatz müssen die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Um die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Besteuerungsgrundlage zu vermeiden, benötigt das materielle Steuergesetz ein normatives Umfeld, das die tatsächliche Lastengleichheit der Steuerpflichtigen gewährleistet. In Betracht kommen das Instrument des Quellenabzugs oder im Veranlagungsverfahren die Ergänzung des Deklarationsprinzips durch das Verifikationsprinzip. Für die Feststellung eines strukturellen Vollzugshindernisses kommt es maßgeblich auf den Regelfall des Besteuerungsverfahrens an. Werden bestimmte Einkünfte materiell-rechtlich zutreffend nur bei einer qualifizierten Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen erfasst und bleibt ein Fehlverhalten bei der Erklärung ohne ein praktisch bedeutsames Entdeckungsrisiko möglich, dann liefert bereits dies hinreichende Grundlagen für die Feststellung einer im Gesetz strukturell angelegten Ungleichmäßigkeit der Rechtsanwendung. Das einkommensteuerrechtliche Veranlagungsverfahren muss als Massenverfahren behördliche Ermittlungsmaßnahmen sachgerecht konzentrieren, um praktikabel zu bleiben. Ein gleichheitsgerechter Vollzug sollte ohne unverhältnismäßige Mitwirkungsbeiträge der Steuerpflichtigen oder übermäßigen Ermittlungsaufwand der Finanzbehörden möglich sein. Wenn die Finanzverwaltung wegen einer bestimmten materiellen Norm generell verschärft prüfen muss, um überhaupt einen annähernd gleichmäßigen Belastungserfolg erreichen zu können, kann dies Indiz für das Bestehen mangelhafter Erhebungsstrukturen sein. Für ein strukturelles Erhebungsdefizit kann auch sprechen, dass die Besteuerung bestimmter Einkünfte im Vergleich mit anderen Einkünften Erhebungsmängel aufweist, wie sie bei den anderen Einkünften regelmäßig in solchem Ausmaß nicht vorkommen. Auch Nachbesserungsversuche der Finanzverwaltung können auf strukturelle Erhebungsmängel hindeuten.
B. Nach diesen Maßstäben entspricht die Besteuerung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 nicht den Anforderungen des Gleichheitssatzes im Steuerrecht. Eine gleichheitsgerechte Durchsetzung des Steueranspruchs scheitert an strukturellen Erhebungsmängeln. Diese Feststellung ist möglich, obwohl das tatsächliche Ausmaß steuerlich nicht erfasster Spekulationsgewinne und korrespondierender Steuerausfälle mangels greifbarer Zahlen nicht bekannt ist. Der Verwaltungsvollzug kann nämlich tragfähige Hinweise insbesondere für mangelhaftes Erklärungsverhalten der Steuerpflichtigen liefern, wenn es an tatsächlich aktivierten oder zu befürchtenden behördlichen Kontrollmaßnahmen fehlt. Strukturell gegenläufige Erhebungsregeln lassen ein tatsächliches Erhebungsdefizit hinsichtlich der materiellen Steuernorm vermuten. Weiter kommt es auf das Gewicht normativer Defizite an.
1. Die einkommensteuerliche Erfassung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften hängt vor allem von der Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen ab. Wer für die Jahre 1997 und 1998 seine Steuererklärung in der vorgeschriebenen Form abgegeben und nicht erkennbar widersprüchliche oder unwahrscheinliche Angaben zu Spekulationsgeschäften bei Wertpapieren gemacht hat, hat bei unvollständiger oder wahrheitswidriger Erklärung daraus erzielter Gewinne regelmäßig nur ein geringes Entdeckungsrisiko getragen. Die Ausgestaltung der Erklärungsvordrucke ist einer gleichheitswidrigen Vollzugssituation insoweit förderlich. Denn allgemeine ermittlungsbeschränkend wirkende Verfahrensgrundsätze werden für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 nicht ausreichend durch praktikable und effiziente, auf hinreichende Überprüfbarkeit im regulären Veranlagungsverfahren angelegte Erhebungsregeln ergänzt. Nach dem Untersuchungsgrundsatz ermittelt die Finanzbehörde den Sachverhalt von Amts wegen. Nach den einschlägigen Erlassen sollen die Finanzbehörden den Angaben der Steuerpflichtigen in der Steuererklärung folgen, soweit diese schlüssig sind und nicht greifbare Umstände für deren Fehlerhaftigkeit vorliegen. Das Entdeckungsrisiko bei mangelhafter Erklärung der in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 erzielten Spekulationsgewinne ist im Regelfall des Besteuerungsverfahrens sehr gering. Der Steuerpflichtige ist außerhalb der Steuererklärungweder zur Mitteilung über von ihm getätigte Spekulationsgewinne noch zur Glaubhaftmachung durch die Beifügung von Belegen verpflichtet. Ebensowenig unterliegt er einer Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflicht. Eine Überprüfung auf andere Weise ist den Veranlagungsstellen schon bei Durchführung der Veranlagung für die betroffenen Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 kaum eröffnet gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dem Veranlagungsfinanzamt Kontrollmitteilungen aus einer Außenprüfung bei Kreditinstituten vorliegen, ist äußerst gering. Der Außenprüfung bleibt ein wesentlicher Teil der zur unmittelbaren Aufdeckung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften geeigneten Konten ohnehin verschlossen. Dass nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs Zufallserkenntnisse, die den Verdacht einer Steuerverkürzung im Einzelfall begründen, mitgeteilt werden dürfen, hilft jedenfalls für den Regelfall der Veranlagung nicht weiter. Differenzen in der Rechtsprechung verschiedener Senate des Bundesfinanzhofs führen in der Praxis zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit, welche Befugnisse die Finanzämter tatsächlich im Einzelfall der Bankenprüfung haben und wie die Finanzgerichte ergriffene Kontrollmaßnahmen rechtlich bewerten. Für den Regelfall der Veranlagung liegen hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 auch keine Erkenntnisse über private Wertpapiergeschäfte aufgrund von Sammelauskunftsersuchen der Finanzverwaltung vor. Mitteilungen von Kreditinstituten an das Bundesamt für Finanzen sind für die hier in Rede stehenden Zeiträume ausdrücklich auf die Prüfung der rechtmäßigen Inanspruchnahme des Sparerfreibetrags und des Pauschbetrags für Werbungskosten bei Kapitalerträgen beschränkt gewesen. Sonstige Umstände, die einer Veranlagungsstelle losgelöst von den Angaben der Steuererklärung hinsichtlich möglicher Spekulationsgewinne aus privaten Wertpapiergeschäften konkreten Anlass zu weiterer Sachverhaltsermittlung geben könnten, sind für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 nicht erkennbar. Eine spätere Überprüfung im Rahmen einer Außenprüfung ist bei Privatpersonen für gewöhnlich nicht vorgesehen. Auf einzelne Maßnahmen der Steuerfahndung kommt es für die Feststellung eines strukturellen Erhebungsdefizits nicht an. Das Entdeckungsrisiko bleibt im Regelfall des Veranlagungsverfahrens aber selbst dann gering, wenn man den Rahmen für ein zulässiges Auskunftsverlangen der Finanzbehörden weiter ziehen sollte. Auch insoweit bestehen faktische und rechtliche Ermittlungshemmnisse. So ist bereits die Berechnung von Spekulationsgewinnen insbesondere bei Girosammelverwahrung von Wertpapieren schwierig. Außerdem gibt es keine auf einschlägige Unterlagen bezogene Aufzeichnungs-, Aufbewahrungs- oder Beschaffungspflicht des Steuerpflichtigen. Umstritten ist, worauf sich die Verpflichtung zur Vorlage von Urkunden bezieht. Kreditinstitute dürfen nach gegenwärtiger Rechtslage nur subsidiär informatorisch in Anspruch genommen werden, wenn der Steuerpflichtige nicht hinreichend mündlich oder schriftlich informiert.
2. Auch was die realitätsgerechte Ausgestaltung des Erhebungsverfahrens angeht, ist von einem strukturellen Erhebungsdefizit in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 auszugehen. Diejenigen, die über die für eine Besteuerung notwendigen Informationen verfügen, müssen für diesen Zeitraum nicht die einschlägigen Daten gegenüber den Finanzbehörden allgemein und den Bedürfnissen eines Massenverfahrens entsprechend transparent machen. Eine Jahresbescheinigung über Kapitalerträge und Veräußerungsgewinne aus Finanzanlagen wird inzwischen insbesondere von Kreditinstituten und Finanzdienstleistungsinstituten unter anderem für nach dem 31. Dezember 2003 abgeschlossene Wertpapierveräußerungsgeschäfte verlangt. Für die hier in Rede stehenden Veranlagungszeiträume wird vor allem mit dem Verbot von Kontrollmitteilungen der Finanzverwaltung eines der wirksamsten Mittel zur Sachverhaltsaufklärung genommen.
3. Die Erhebung der Einkommensteuer auf Spekulationsgewinne bei Wertpapieren lädt gegenüber der Steuererhebung bei anderen Einkünften in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 zu rechtswidrigem Handeln geradezu ein. Bei Spekulationsgeschäften mit Grundstücken ist der Notar gesetzlich zur Anzeige gegenüber der Finanzverwaltung verpflichtet. Bei Steuerpflichtigen, die einen gewerblichen oder land- und forstwirtschaftlichen Betrieb unterhalten oder einer selbstständigen freiberuflichen Tätigkeit nachgehen, ist die voraussetzungslose Außenprüfung möglich. Bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung ist der zur Einkünfteerzielung eingesetzte Vermögensgegenstand nicht zu verheimlichen, regelmäßig wird er auf Dauer gehalten. Häufig sollen Verluste steuerlich geltend gemacht werden. Bei Einkünften aus Kapitalvermögen existieren eine Quellensteuer sowie die Kontrolle durch Mitteilungen von Kreditinstituten an das Bundesamt für Finanzen. Bei Einkünften aus nicht selbstständiger Arbeit ist die Erhebung der Einkommensteuer in Form einer - hoch effizienten - Quellensteuer (Lohnsteuer) ausgestaltet.
4. Die von Bundes- und Landesfinanzverwaltungen vorgetragenen Nachbesserungen beim Vollzug entfalten eher Indizwirkung für als gegen das Bestehen eines strukturellen Vollzugsdefizits in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998. Insoweit deutet nichts darauf hin, dass das festzustellende tatsächliche Erhebungsdefizit nur Folge temporärer Mängel der Finanzverwaltung gewesen wäre.
C. Der Gesetzgeber ist dafür verantwortlich, dass das maßgebliche Verfahrensrecht keine Regelungen enthält, durch die eine wirksame Kontrolle von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften gewährleistet ist, sondern die für beide Erhebungszeiträume anzuwendenden verfahrensrechtlichen Regelungen einer solchen Kontrolle sogar entgegen wirken. Dem Gesetzgeber waren die gleichheitsrechtlichen Anforderungen an den Vollzug der zur Prüfung gestellten Steuernorm bekannt. Sowohl die ermittlungsbeschränkende Wirkung des früheren Bankenerlasses als auch die Voraussetzungen für die Gleichheit im Belastungserfolg sind im Zinsurteil des Zweiten Senats vom 27. Juni 1991 klargestellt.
D. Der Befund eines strukturellen Vollzugsdefizits lässt sich nicht ohne weiteres von einem Erhebungszeitraum auch auf dessen Folgejahre übertragen. Die einfachgesetzliche Lage hat sich mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 1999 deutlich gewandelt. So ist der Ausgleich von Spekulationsgewinnen durch entsprechende Spekulationsverluste aufgrund desSteuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 vom 24. März 1999 möglich. Jedenfalls ab dem Frühjahr 2000 hat eine negative Kursentwicklung an den Kapitalmärkten eingesetzt. Angesichts dessen wirken sich selbst fortbestehende normative Defizite möglicherweise nicht mehr in verfassungsrechtlich relevanter Weise aus.
Urteil vom 9. März 2004 – 2 BvL 17/02 –